Frisch von den Trendence Awards: Über Analytics und KPIs reden alle - doch wie geht man ein handfestes Dashboard ganz praktisch an? Interview mit Susanne Woyke von TÜV SÜD über ihr neues preisgekröntes Tool.
Beliebte Frage: Was sind die wichtigsten KPI im Recruiting? Häufigste Antwort: Kommt drauf an! Berater-Schachmatt. Ich finde, es lohnt sich, das Thema einmal von der anderen Seite zu betrachten: Statt zunächst die perfekten KPI zu erraten, kann man sich dem Thema auch ganz praktisch und methodisch annähern.
Recruiting hat mit Menschen zu tun, und das merkt man schon daran, dass es sehr menschelt: statt naturwissenschaftlicher Gleichungen muss man sich mit experimentellen Annäherungen an psychologisch komplexe Prozesse zurechtfinden. Stichwort Kandidatenverhalten, Stakeholder, Unvorhersehbarkeit, und dazu begrenzte Mittel, also realistisch sein statt alles auf einmal wollen.
Daten sind ein Dschungel - ein kluges Vorgehen mit Kompass und Karte (und Machete) sind wichtiger als die pure Masse an Daten. Das trifft sicher auf die generelle Erfolgsmessung beim Recruiting genau so zu wie auf Kampagnen-Steuerung und die prädiktive Datenanalyse für die optimale Strategie bei einer bestimmten Stellenbesetzung.
Und dann scheint es manchem HR-Team noch so, als wären einem alle anderen schon voraus. Dabei haben die meisten Arbeitgeber dieselben - oder sehr ähnliche - Herausforderungen.
Hintergrund:
Susanne Woyke ist Expertin Strategisches Talent Acquisition & Recruitment Marketing, HR Center of Excellence Deutschland bei TÜV SÜD.
Der Recruitingkompass - Entwicklung eines Tools zur datenbasierten Entscheidung über die richtige Recruitingstrategie - belegte Platz 3 in der Kategorie Talent Intelligence bei den Trendence Awards 2024.
Umso schöner, dass gerade auf dem deutschen Markt sharing is caring so ausgeprägt ist, siehe: die vielen sportlichen Pitches bei den von Embrace organisierten Tredence-Awards. (Sieht in anderen Ländern nicht immer so aus.) Ganz in diesem Sinne teilt Susanne mit uns heute die Idee hinter ihrem experimentellen Ansatz zu einem Recruitingkompass, der es in der Kategorie Talent Intelligence auf das Treppchen geschafft hat.
Denn kopieren kann man bei guten Innovationen oft nicht das Ergebnis, als vielmehr den Weg dorthin als Inspiration zu nehmen, wie ich mich mal weit aus dem Fenster lehnend zu behaupten die Stirn habe. Schauen wir uns das also einmal an. Los geht's!
Julian: Liebe Susanne, wir kennen uns ja schon einige Jahre, und du hast als Expertin viel gesehen. Was würdest du sagen, hat sich zuletzt im Bereich Talent Intelligence getan, und warum ist es ein wichtiges Thema für euch bei TÜV SÜD?
Susanne: Die Nutzung von Daten im Recruiting ist keine Kür mehr, sondern Pflicht. Den Recritingprozess auf Grundlage von Daten zu steuern, wird immer selbstverständlicher. Das hat man auch in den Pitches und den Masterclasses bei der Verleihung der Awards gesehen.
Insbesondere die Recruitingkampagnen, die vorgestellt wurden, wurden alle mit Daten untermauert. Auch die Fragen aus der Jury zielten immer auf eine objektive Erfolgsmessung ab.
Es wird zwar schon sehr datenbezogen gearbeitet, aber ich denke, dass es noch sehr viel Potential gibt. Die aktuelle Entwicklung geht aber in die richtige Richtung.
Was ist die Idee des Recruitingkompasses, und wie seid ihr draufgekommen?
Wir wollen unseren Recruitingprozess effizienter gestalten und hierbei spielen Kennzahlen eine sehr wichtige Rolle. Wir erheben bereits sehr viele prozessbezogene Recruitingkennzahlen und nutzen diese, um den Prozess zu optimieren und zu beschleunigen.
Aber uns kam dann mit der Zeit, was wäre, wenn wir nicht nur vergangenheitsbezogene Kennzahlen erheben würden, um die Prozesse im Nachgang zu optimieren, sondern wir schon bevor wir in die Personalbeschaffung gehen, analysieren würden, was die richtige Recruitingstrategie für das jeweilige Stellenprofil sein könnte?
So kamen wir darauf, ein Tool zu entwickeln, welches genau das abbildet. Mit Trendence hatten wir dann auch den richtigen Partner an der Seite.
Wie muss man sich die Anwendung im Alltag vorstellen, und was für ein Effekt hat sich für euch gezeigt?
Wenn in unserem Sourcing oder Recruiting-Kampagnenmanagement-Team Anfragen zu besonders schwierigen Positionen bekommen, brauchen wir zunächst eine Analyse über das Arbeitsmarktpotential, um dem Hiring Manager die richtige Recruitingstrategie vorschlagen zu können.
Beispielsweise, ist überhaupt das Arbeitsmarktpotential der Stelle am Markt so groß, dass sich eine spezifische Recruitingkampagne lohnt oder geben wir die Stelle direkt ins Sourcing.
Mit dem Tool stehen uns auch Daten zur Verfügung wie Gründe für einen Jobwechsel, wichtige Aspekte für Arbeitgeberwahl und zum Medienverhalten. Das hilft uns sehr im Sourcingprozess oder falls wir eine Recrutingkampagne aufsetzen auch dafür.
Wer hat euch intern und extern dabei unterstützt, und wie lang hat es gedauert?
Wir haben das Tool zusammen mit Trendence entwickelt. Zunächst haben wir zusammen mit dem Entwicklungsteam und den Beteiligten Rollen im Unternehmen einen Klick-Dummy entwickelt, welcher die grundsätzlichen Funktionalitäten, Features, Design und UX abgebildet hat.
Die Entwicklung hat ca. acht Monate gedauert. Nach der Abnahme des Klick-Dummys haben wir uns auf die Erschließung der Datenquellen fokussiert. Im Tool sind Daten verschiedener Anbieter verarbeitet, dadurch war dieser Vorgang ziemlich komplex, da die Daten zunächst in ihrer Struktur vereinheitlicht werden mussten.
Hier mussten wir verschiedene Iterationszyklen durchlaufen. Wir waren stets in enger Abstimmung mit den Entwicklern und unseren internen Stakeholdern. Seit 01.05.2024 ist das Tool im Testbetrieb im Einsatz und wir sind nun dabei die Prozesse im Recruiting entsprechend anzupassen.
Mit dem Tool haben wir eine gute Basis geschaffen und kommen unserer Vision näher - einen ganzheitlichen datenbasierten Recruitingprozess aufzusetzen. Perspektivisch ist es möglich, weitere Datenquellen anzuschließen und die Funktionalität in weiteren Schritten ausbauen.
Kannst du etwas zum ROI sagen, also ob es sich für euch gelohnt hat?
Aktuell ist das Tool im Testbetrieb und wir haben es im Recruiting, Sourcing und Recruiting-Kampagnenmanagement im Einsatz.
Für das Sourcing und im Kampagnenmanagement hat es sich auf alle Fälle gelohnt, weil wir hier immer zunächst eine Art Persona erarbeiten, bevor wir in die Personalbeschaffung einsteigen.
Ob wir das Tool weiterhin im Recruiting nutzen werden, ist aktuell noch nicht klar. Da die Recruiter*innen sehr häufig ähnliche und ihnen sehr bekannte Stellenprofile besetzen, ist es oft nicht notwendig, in eine detaillierte Datenanalyse zu gehen, weil sie durch ihre Erfahrung, bereits die entsprechenden Marktkenntnisse haben.
Aber wenn neue Profile dazukommen sollten, macht es schon Sinn, sich mit den Daten auseinanderzusetzen. Hier schauen wir gerade noch, wie wir das am besten in die bestehenden Prozesse implementieren.
Was war dein persönliches Highlight, was vielleicht auch eine Lesson Learned bei dem Projekt?
Wichtig ist, die Kolleg*innen, die mit dem Tool arbeiten sollen, von Anfang mit in den Entwicklungsprozess einzubeziehen, damit wir deren Bedürfnisse damit erfüllen und abdecken.
Und die Datenerschließung war dann doch komplexer als erwartet, weil die Daten zunächst in ihrer Struktur vereinheitlicht werden mussten. Das hat dann doch etwas länger gedauert und mehr Zuarbeit durch uns benötigt als vorab eingeplant.
Was mich total interessieren würde: Alle sprechen ja über Analytics, Intelligence, Daten und KPI. Gibt es Daten, die du für typischerweise unterschätzt oder andere, die du sogar für überschätzt hältst?
Man sollte sich im Unternehmen auf alle Fälle fokussieren und nur die Kennzahlen erheben, die man auch braucht, um in die Prozessoptimierung einzusteigen. Lieber mit ein paar wenigen starten, dafür aber damit dann konkrete Maßnahmen ableiten und umsetzen.
Sind diese im Unternehmen implementiert und haben im täglichen Doing ihren festen Platz gefunden, kann man den nächsten Schritt gehen.
Wie man anfängt, ist von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich, aber ich würde zunächst mit den Prozessdurchlaufzeiten beginnen. Predictive Analytics ist dann eher fortgeschrittenes Level und macht erst Sinn, wenn die Basisdaten gut verarbeitet werden.
Was würdest du anderen Teams mitgeben, die etwas ähnliches umsetzen wollen?
Zunächst einmal würde ich raten, sich auf dem Markt umzuschauen, was es denn schon gibt und ob die Anforderungen damit abgedeckt sind, bevor man eine eigene Lösung entwickelt. Es gibt wirklich schon viele tolle und intuitive Lösungen.
Aber wenn man nicht fündig wird, ist es sinnvoll, sich einen starken und kompetenten Partner zu suchen und zusammen eine eigene Lösung zu entwickeln. Auf alle Fälle braucht man aber dafür auch Leidenschaft und muss sich dafür Zeit „freischaufeln“, damit man im vorgesehenen Zeitplan bleibt und weiterkommt.
Und zuletzt: Was hast du als nächstes Spannendes vor, was können wir von euch für das nächste Jahr erwarten?
Nächstes Jahr steht die Implementierung von einem neuen ATS an. Hieran arbeiten wir gerade sehr intensiv.
Das hat allerdings zur Folge, dass wir alle unsere Kennzahlensettings, die wir uns in den letzten Jahren aufgebaut haben, neu denken müssen und neu aufbauen müssen.
Aber wir erhoffen uns dadurch auch prozessübergreifende Messmethoden, die wir aktuell aus verschiedenen Gründen bisher nicht umsetzen konnten. Daher bleibt es auf alle Fälle spannend und es wird nicht langweilig.
Susanne, danke für diese Einblicke und alles Gute für den Ausbau des Tools, auch mit neuem ATS!