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Klartext: Was können Daten und KI, und was können sie nicht?

  • Writer: Julian Ziesing
    Julian Ziesing
  • 24 hours ago
  • 6 min read

Updated: 11 hours ago

Frost oder Fieber? Mit Jo Diercks messe ich die aktuelle Temperatur der Community und horche, wie auf der HR Edge über Technologie gesprochen wurde.



Joachim "Jo" Diercks

Gründer und Geschäftsführer von Cyquest, Blogger, Buchautor und Veranstalter der HR Edge in Hamburg.


Seine Freunde nennen ihn nur Jo, die anderen aber meines Wissens auch. Ein Gespräch mit ihm schweift schnell ins Philosophische, Psychologische und Persönliche ab, da muss man als Interiewer auf alles gefasst sein.


Heute mal aus der Reihe: Von wem man lange nicht gehört hat! Kleiner Scherz. Von Jo hört man eigentlich ständig. Doch das soll nichts Schlechtes heißen!


Im Gegenteil, von Jo höre ich ganz gern, denn er gehört zu denen, die ihre eigene Stimme haben, unbestechlich und originell. Und das seit so vielen Jahren, dass ich es aus Höflichkeit nicht genauer nachrechnen möchte.


Jetzt aber Schluss mit den Komplimenten, schließlich sind wir mittlerweile ausgenüchtert, was nach der HR Edge in Hamburg naturgemäß etwas dauern kann.


An einem der ersten schönen Frühlingstage tauten bei dem etablierten HR-Familientreffen mal wieder die introvertiertesten Gäste binnen Minuten auf, nicht nur wegen der Cocktails, und im Überschwang versprach ich Jo ein Interview zur Lage der Recruiting-Community. Hier ist es, mit Bildern vom Event:


Julian: Kaum vorstellbar, dass dich jemand noch nicht kennt, aber vielleicht ist ja Nachwuchs anwesend. Stell dich doch lieber nochmal vor.


Jo: Ich bin einer der Gründer und Geschäftsführer von Cyquest. Das Unternehmen gibt es seit fast 26 Jahren, wir sind in Hamburg mit 23 Mitarbeitenden, davon viele mit psychologischem Hintergrund.


[Gemeint ist die Ausbildung - Anm. d. Red. :-) ]


Unsere Mission ist es, psychologische Inhalte in webbasierte Software zu gießen, für bessere Auswahlentscheidungen im Recruiting.


Parallel betreibe ich seit über 18 Jahren den Recrutainment-Blog mit bis zu 20.000 Lesern im Monat. Was einem Narrenfreiheit gibt, über den eigenen Tellerrand hinaus Dinge zu kommentieren.


HR Edge im Business Club Hamburg, die "HR-Afterwork-Unconference"
HR Edge im Business Club Hamburg, die "HR-Afterwork-Unconference"

Julian: Ihr sagt: „Eignungsdiagnostik trifft Employer Branding“. Über euren Sieg bei Potentialparks Innovation Award mit der Open Application der Deutschen Telekom hatte ich ja berichtet.


Ist das gerade ein goldenes Zeitalter für euch bei Cyquest? Viele Bewerbungen bedeuten mehr Bedarf an Diagnostik, also wohl mehr Aufträge für euch.


Jo: Ja, wir sehen zwei „Röhren“: In Phasen mit vielen Bewerbungen geht es um Selektion, also Diagnostik zur Auswahlhilfe.


In Bewerbermangel-Phasen braucht es Orientierung und gezielte Ansprache - da ist ein Recruiting Game, ein virtuelles Praktikum oder ein Job-Matching-Tool hilfreich.


Derzeit haben wir beides: eine miese Konjunktur und Personalabbau, aber gleichzeitig auch Fachkräftemangel, etwa in der Pflege oder im Handwerk. Das spielt uns in die Karten.


Ausprobieren konnte man Virtual Reality, Escape Games und AI-Writer für Stellenanzeigen
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Was es allerdings komplizierter macht, sind Unsicherheiten bei Budgets, Technologien und strategischer Planung. Die Verkaufszyklen werden länger und unvorhersehbarer.


Julian: Ja, ein DAX-Arbeitgeber erzählte mir kürzlich, dass auf eine schwierige Stelle zwei überrannte Stellen kommen, und das Management sieht nur die überrannten und denkt "läuft doch, wozu investieren".


Hyperaktiver Stillstand

Jo: Ja, das ist diese Schizophrenie des Marktes. Im selben Unternehmen kann es völlig gegensätzliche Probleme geben. Manchmal von einem Flur zum nächsten.


Dazu kommen Effekte wie G9 in Bayern und NRW, wo beim Schulabgang ganze Jahrgänge wegfallen.


Und schließlich die Unsicherheit rund um KI: Alle wissen, dass sie relevant wird, aber kaum jemand weiß, wie konkret. Das erzeugt eine Art „hyperaktiven Stillstand“ – alle wollen, aber niemand weiß, wie.


Julian: Und da rückt Diagnostik eher in Richtung Orientierung?


Jo: Genau. Wir beobachten eine klare Verschiebung: weg von reiner Selektion, hin zu unterstützender Orientierung.


Ein gutes Beispiel ist die Telekom: Sie haben nicht einfach ihre Anforderungen gesenkt, sondern versuchen, aus weniger wieder mehr zu machen, indem sie Bewerbenden Alternativen innerhalb des Unternehmens aufzeigen.


Der Nasenfaktor sollte nie verschwinden

Julian: Was sollte Diagnostik eigentlich gerade testen? Fähigkeiten, Fertigkeiten, Erfahrung, oder eher die kulturelle Passung?


Jo: Ich denke, solange Menschen mit Menschen arbeiten, wird der Bauch- oder Nasenfaktor nie verschwinden. Das ist auch legitim. In der Endauswahl passieren aber weniger Fehler, als viele denken.


Die gravierenderen Fehler liegen vorher, in der Vorauswahl. Viele potenziell passende Kandidaten erhalten fälschlicherweise eine Absage. Diese Fehler sieht man nicht. Sie sind wie Kohlenmonoxid im Recruiting: giftig, aber unsichtbar.


Julian: Was genau testet ihr denn, und was ändert sich hier grad?


Jo: Wir unterscheiden drei Ebenen:


  1. Qualifikatorische Passung (was hat die Person bisher gemacht, Zeugnisse etc.)


  1. Potenzial (was kann sie lernen, wie lernfähig und motiviert ist sie?)


  1. Kulturelle Passung (passt sie ins Unternehmen?)


Die Potenzialfrage wird immer wichtiger, weil Berufe sich rasant ändern.


Und bei der Kultur geht es darum, ob jemand trotz fachlicher Eignung vielleicht nicht „andockt“. Da wird gerade versucht, mit Diagnostik greifbarer zu machen, was früher rein intuitiv war.


KI kann hier helfen, aber sie braucht valide Daten und klare Zusammenhänge, sonst hilft sie nicht weiter.


Wer sich traute, konnte mit better ads von milch & zucker seine Stellen mit KI diagnostizieren
Wer sich traute, konnte mit better ads von milch & zucker seine Stellen mit KI diagnostizieren

Julian: Und wenn man mit KI Bewerbungen vorsortiert, etwa nur die 40 von 400 mit dem höchsten Score anschaut, um Geld zu sparen? Wird das nicht schnell unfair für den 41., der den Job auch gekonnt hätte und schnell mal aussortiert wird, weil er irgend eine irrelevante Logikaufgabe falsch hat?


Jo: Diagnostik selbst entscheidet nichts. Sie ist ein Messinstrument. Was man damit macht, ist eine Managemententscheidung. Ja, man kann Kapazitäten priorisieren. Aber man sollte mehrdimensionale Kriterien nutzen, nicht nur Intelligenz. Sonst übersieht man motivierte Menschen mit Entwicklungspotenzial.


"Auswahl durch KI? Da bin ich skeptisch."

Julian: Und wie siehst du automatisierte Auswahl durch KI?


Jo: Da bin ich eher skeptisch. Juristisch ist das ohnehin schwierig. Und technisch fehlt meist die Basis: valide Daten, um zu trainieren, was „gute Bewerber“ wirklich ausmacht.


Viele Entscheidungen wirken plausibel, sind aber nicht überprüfbar. Ohne Transparenz und Nachvollziehbarkeit fehlt das Vertrauen.


Julian: Viele fragen sich, wo KI an seine Grenzen stößt. Menschliche Intuition kann ja manchmal sogar bessere Entscheidungen ermöglichen: Stichwort Gerd Gigerenzer, einer der Forscher unseres „Bauchgefühls“, das zwar ungenauer ist, sich aber in komplexen Situationen den mathematischen Modellen als überlegen erweisen kann.


Jo: Ja, Intuition ist wie evolutionär gewachsene Heuristik, eine Art internalisiertes Trainingsset des Menschen.


Aber auch KI basiert auf Erfahrung, nur dass wir sie nicht so gut „verstehen“. Das macht viele misstrauisch. Für mich ist daher Erklärbarkeit entscheidend.


Gigerenzer sagt ja im Prinzip: Intuition ist deswegen wichtig, weil sie oft zu passablen Entscheidungen führt. Und genau das machen wir mit KI auch: Wir trainieren sie, schaffen so eine Maschinen-Evolution. Und dann kommen Entscheidungen heraus, die sich im Nachhinein gar nicht mehr so klar erklären lassen.


Julian: Und der Provider ist fein raus, weil irgendwo ein Disclaimer steht: „Die KI unterstützt nur.“


Jo: Genau. Das ist dieselbe Logik, die auch Social-Media-Plattformen nutzen: „Ich bin nicht schuld, wenn bei mir Hate Speech stattfindet – das hat jemand anders gepostet. Ich stelle nur die Plattform.“


Julian: Ich habe Cyquest immer als Boutique für solvente Großkunden wahrgenommen. Jetzt habt ihr aber ein Produktportfolio für alle?


Jo: Wir haben lange nur individuelle Diagnostik entwickelt. Irgendwann kamen immer mehr Mittelständler dazu mit 500 oder 800 Bewerbungen im Jahr und sogar kleine Unternehmen, die eine Stelle zu besetzen haben und darauf 10 Bewerbungen bekommen.


Jetzt bieten wir neben den Individuallösungen auch standardisierte Module – unsere Talent-Assessment-Tools -, sofort verfügbar und pay-per-use. Insofern haben wir die Diagnostik hier ein Stück weit demokratisiert.


Afterworkige Gespräche mit Aperol in der Hand

Julian: Mal zu eurem Event: Ich war beeindruckt von der Location der HR Edge, schon der Fußweg entlang der nobel-hanseatischen Elbchaussee hatte etwas Besonderes. Klassische Konferenzen in Hotels mit Schlips und Kragen wirken ja mittlerweile altbacken.


Wie habt ihr die besondere Atmosphäre geschaffen? Denn Geld verdient ihr damit vermutlich keins?


Stimmung durchaus gelöst
Stimmung durchaus gelöst

Jo: Nein, das Ticket deckt gerade so die Kosten. Warum machen wir’s? Weil es Spaß macht. Es ist eine Bühne für Themen, die mir am Herzen liegen, wie beim Bloggen. Klar hat das auch einen positiven Effekt auf Sichtbarkeit und Vertrauen, aber primär ist es ein persönliches Anliegen.


Ich wollte ein Format mit einem roten Faden: inhaltlich fokussiert, aber gleichzeitig dieses Afterworkige. Kurze Vorträge im Stehen, Gespräche mit Aperol in der Hand, Impulse, die eher anregen als alles erklären. Durch die Kopfhörer kann man sich ungestört unterhalten oder zuhören.


Dazu kommt das HR zum Anfassen: VR-Brillen, KI ausprobieren, ohne Hemmschwellen. Dieses Jahr war besonders magisch… vielleicht auch wegen des Wetters.


Julian: Auf dem Event hast du wieder einmal über Geld bei Personalentscheidungen gesprochen. Warum ist dir das so wichtig?


Jo: Recruiting ist eine Investitionsentscheidung, oft in Millionenhöhe. Trotzdem ist HR fast die einzige Disziplin, die sich nicht systematisch fragt, wie gut sie arbeitet. Man kennt „Time to Hire“ oder „Cost per Hire“, aber was zählt, ist: War die Entscheidung gut? Ein Produktionsvorstand hingegen denkt immer in ROI.


Wenn man misst, kann man Maßnahmen besser begründen und letztlich besser rekrutieren.


Caring Company oder Gig Economy

Julian: Mal so ganz blöd gefragt: Wie sieht denn für dich die Zukunft des Bewerbens aus?


Jo: In 15 bis 25 Jahren wird es einen digitalen Begleiter geben, der dich besser kennt als du dich selbst, KI-unterstützt, vielleicht am Handgelenk oder sogar im Kopf mit so etwas wie Neuralink.


Du wirst sagen: „Such mir was Passendes“, und er wird dich auf passende Jobs hinweisen. Aber Jobentscheidungen haben Tragweite. Das ist kein Restaurantbesuch. Deshalb wird Vertrauen essenziell bleiben.


Julian: Vielleicht wird das Arbeitsleben auch flexibler, mit mehr Wechseln, ohne Angst vor „Lücken“ im Lebenslauf.


Jo: Möglich. Ich sehe zwei Pole: Caring Company als Ort der Bindung und die Gig-Economy als frei einsetzbare Ressource. Beide werden wachsen, denn Menschen sind unterschiedlich. Und genau das muss HR ernst nehmen.


Julian: Jo, ich merke schon, so schnell wird uns nicht langweilig. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, und bedanke mich für das Gespräch!


Das Cyquest-Team, das hinter der HR Edge steckt
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